Es war einmal ... die Goldrute

Ein russisches Volksmärchen

 

Zur Zeit des Mitsommers, wenn das Licht am längsten scheint und die Kräuter ihre größte Kraft entfalten, geschieht so manch Wundersames. An solchen Tagen öffnet sich das Herz der Natur – und wer genau hinhört, kann ihre Sprache vernehmen.

Dazu möchte ich dir folgende Geschichte erzählen, die jedes Lebensalter zum Nachdenken anregen darf.

 

Es war einmal ein armer Mann, der in großer Sorge lebte. Die Vorräte waren fast aufgebraucht, und er wusste nicht, wie er seine Familie fortan ernähren sollte.

Eines Morgens nahm er seine Axt, begab sich in den Wald, um Holz zu schlagen, das er dann zu verkaufen gedachte.

Es dauerte nicht lange, dass er auf eine Birke traf, deren Stamm seidig weiß wie Mondlicht schimmerte.

Schon wollte er das Beil ansetzen, als ihm eine zarte Stimme zuflüsterte:
„Bitte verschone mich. Siehst du nicht meine vielen Kinder hinter mir? Ohne mich können sie nicht überleben.“
Der Mann wurde von diesen Worten so sehr berührt, dass er es vorzog, nach einem anderen Baum Ausschau zu halten.

 

Kurz darauf stand er vor einer mächtigen, knorrigen Eiche, deren Krone weit in den Himmel ragte.

„Hier werde ich gutes Holz finden, das mir einen Sack voll Geld einbringen kann“, dachte der arme Mann.

Doch die Eiche bettelte inbrünstig um ihr Leben und rief mit verzweifelter Stimme:
„Fälle mich nicht, ehe die Eicheln reif sind, denn Mensch, Tier und auch der Wald sind auf meine Früchte angewiesen.“

Wieder ließ sich der Mann überzeugen und von seinem Vorhaben abbringen.

Mit dem ausladenden Wacholder, der ihn flehentlich an seine große Heilkraft erinnerte, mit dem Faulbaum, der Pappel und der Eberesche erging es ihm nicht anders – alle ermahnten ihn, sie doch stehen zu lassen, und alle hatten gute Gründe dafür.

 

Zutiefst niedergeschlagen wollte der Mann schon aufgeben, als ihn plötzlich ein Geistesblitz durchfuhr!

„Ich könnte es ja mit einem Nadelbaum versuchen“, dachte er bei sich.

Kurze Zeit später stand er vor einer prächtigen Tanne, die für sein Ansinnen wie geschaffen zu sein schien.

Doch kaum hatte er seine Axt gehoben, hörte er auch schon deren mahnende Stimme:
„Ohne mich gäbe es im Winter kein Grün im Wald und die Menschen hätten keinen Baum, an dem sie zu Weihnachten Lichter entzünden.“

 

Da ließ sich der Mann auf einen Baumstumpf nieder und mutlos seinen Kopf hängen.

Kein Holz, keinen Gewinn, wie sollte das nun mit seiner Familie weitergehen?

In diesem Augenblick bemerkte er ein kleines Männchen auf der Lichtung. Es erschien ihm meeralt, aber seine Augen leuchteten wach und hell wie das Sonnenlicht. In der Hand hielt er eine funkelnde Goldrute.


„Du scheinst verstanden zu haben, dass jedes Wesen im Wald seinen Platz und seine Aufgabe hat“, sprach das Männchen. „Deine Einsicht und Güte will ich mit dieser goldenen Rute belohnen. Wenn du sie mit Bedacht nutzt, wird sie dir all das geben, was du zum Leben brauchst. Aber denk daran! Wünsche dir nur, was Sinn macht, und nie mehr, als nötig ist.“

Der Mann nahm das Geschenk dankbar und vertrauensvoll entgegen und hielt Wort. Er wünschte sich immer nur das Nötigste und fand in dieser Genügsamkeit wahres Glück. Seine Kinder wuchsen mit dieser Haltung auf und entwickelten sich ebenfalls zu klugen, zufriedenen Menschen.

 

Seither kann man der Echten Goldrute (Solidago virgaurea) immer wieder einmal begegnen.

Mit ihrer Leuchtkraft will sie uns an die Geschichte erinnern. Ob sie beim Anhäufen von Reichtümern hilfreich ist, mag bezweifelt werden – doch als Heilkraut, das Entzündungen lindert, Bakterien bekämpft und Blasenleiden bessert, kann sie sich wahrlich als Goldschatz erweisen.

 

Aber das ist eine andere Geschichte, auf die ich in meinem nächsten Beitrag ausführlich eingehen werde!

lg md sm xs