Zum Muttertag: Nomen est Omen

„Mach den Mund auf, Zunge raus, schau dass die Blätter genau auf der Stelle bleiben, wo’s sticht“. Weinend versuch ich den Rat zu befolgen, was nicht ganz einfach ist in dem Schockzustand in dem ich mich befinde. Vor wenigen Sekunden ist mir eine Biene in den Mund geflogen („Weil die Ingrid halt net mal beim Radl fahrn still sein kann“, wird mein Vater die Geschichte später schmunzelnd ergänzen) und hat ihren Stachel mit voller Wucht in meine Zunge gerammt. Während ich in Tränen ausbreche und Tata beruhigend auf mich einredet, schmeißt meine Mutter das Rad auf den Boden, zupft ein paar Blätter aus der Wiese, kaut auf diesen rum und legt den Brei dann vorsichtig auf meine Zunge.
Keine Minute später ist die Schwellung weg – zwar prickelt der Bienenstich noch immer unangenehm, aber leben und atmen tu ich noch.

16 Jahre ist es inzwischen her, dass Hildegard Kreiter, meine Mutter, mir irgendwo zwischen Passau und Wien die Heilkraft der Kräuter – in diesem Fall des Breitwegerichs – bewiesen hat. Inzwischen hat sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht, hält Kräuterkurse in ganz Südtirol, hegt und pflegt ihren Garten, streift stundenlang durch Wald und Wiesen und hat in den letzten drei Jahren zwei Bücher über die Gesundheitslehre von Pfarrer Kneipp veröffentlicht.
Im Haus meiner Eltern stehen auf jedem Fensterbrett Flaschen mit Johanniskrautöl, das wegen seiner kräftigen roten Farbe auch Rotöl genannt wird, und Gläser mit Kräuterhonig, die regelmäßig umgedreht werden müssen. Im Kühlschrank findet sich in der warmen Jahreszeit frische Kräuterbutter, im Winter gibt’s Tee, der nicht nur wunderbar nach Sommer schmeckt, sondern auch „gesund ist und dein Immunsystem stärkt, Ingrid“.

Während der pubertären Trotzphase tat ich viele von Mamas Tinkturen, Salben und Heilmittelchen als nutzlosen Hokuspokus ab. Dass unscheinbare Pflanzen die gleiche Wirkung haben können wie verschreibungspflichtige Pillen und Tabletten wollte nicht in meinen Kopf. Und doch – die Erinnerung an das „Breitwegerich-Wunder“ nagte an mir.
Inzwischen ist meine Pubertät ferne Erinnerung. Bevor ich zu schulmedizinischen Medikamenten greife, greife ich lieber noch einmal zum Telefon. Denn in den meisten Fällen hat Mama ein Heilmittel parat. Auch mein Bruder Michael schwört auf Mamas Wissen. Die Prellungen und Blutergüsse, die er sich regelmäßig beim Fußballtraining holt, heilen doppelt so schnell, wenn sie mit Arnikatinktur eingerieben werden. Bei Abschürfungen wirkt die Ringelblumensalbe Wunder. Und weil alles, was mit Liebe hergestellt wird, die doppelte Heilwirkung hat, werde ich mit den neuesten Errungenschaften eingedeckt, wann immer ich heimfahre: Hustenhonig mit Himmelschlüsseln und Huflattich, Glückskekse mit Muskatnuss und Ingwer oder durchblutungsfördernde Wacholdercreme werden dann im Kofferraum verstaut.

„Heimfahren“, das heißt nach Perdonig fahren. Im 200-Seelen-Ort in Südtirol wachsen gefühlte 100.000 Apfelbäume, es gibt vier Gasthöfe und einen Buschenschank. Die Dorfkirche ist den Heiligen Vigilius und Ulrich geweiht, die Feuerwehrhalle wurde kürzlich renoviert und im Vereinssaal treffen sich regelmäßig die Dorfjugend, der Chor, der Familienverband und der Pfarrgemeinderat. Außerdem gibt es in Perdonig eine so genannte Zwergschule: Im heurigen Schuljahr sind es acht Kinder, die klassenübergreifend unterrichtet werden.
Eine so kleine Schule bietet dem Lehrpersonal, aber auch den Schülerinnen und Schülern naturgemäß sehr viele Entfaltungsmöglichkeiten. Mir ist aus meiner Schulzeit vor allem das „Umweltjahr“ in Erinnerung geblieben. Lehrerin war damals meine Mutter, und sie vermittelte ihr Wissen begeistert auch uns Kindern. Wir bauten einen Komposthaufen, streiften durch den Wald auf der Suche nach essbaren Beeren und Pilzen, pflanzten in unserem Schulhof Kresse und Rauke, und unternahmen lange Kräuterwanderungen.

Mama ist inzwischen pensioniert, gibt ihre Kenntnisse in Heil- und Naturkunde aber weiterhin gerne an andere weiter. Ganze Kindergartengruppen, Pensionistenverbände oder Vereine führt sie regelmäßig durch den Perdoniger „Kreiter“-Garten. Nomen est Omen, heißt es. Wenn Gäste fragen, bestätigt Mama scherzhaft: Ja, sie habe sich ihren Mann dem Namen nach ausgesucht. Ein Glück, dass sie ihn ganz nebenbei auch noch liebt.

Zur Liebe trägt sicher bei, dass mein Vater tatkräftig mithilft: Wann immer die Kräuterschnecke mit Erde aufgefüllt oder der Sanddornstrauch geschnitten werden muss, ist er zur Stelle. Dafür genießt er den Status als „Testperson Nr. 1“. Er bekommt nicht nur heilkräftige, sondern auch schmackhafte Kostproben. Die Salate, Kräutersuppen, das selbstgebackene Brot werden von meiner Mutter mit essbaren Blüten verziert – die orangefarbene Kapuzinerkresse ist ein besonders heißer Tipp, sie ist ein wahrer Hingucker und außerdem sehr würzig – oder im Winter wahlweise mit Nuss-, Sonnenblumen- und Sesamkernen.

Einige Rezepte sind seit Generationen überliefert: Gebackene Akazienblüten etwa, oder Rosmarinfladen. Aber meistens lässt Mama ihre Phantasie spielen. Sie mischt getrocknete Minze unter braunen Zucker und würzt damit ein Bananen-Apfelmus. Sie zupft Schafgarbenblättchen, blühende Gundelrebe, Spitzwegerich, Sauerampfer, Pimpinelle, Giersch, Brennnessel, Löwenzahn und Wiesensalbei auf dem Nachhauseweg von der Palmsonntagsmesse und zum Mittagessen gibt’s eine dampfende, köstliche Wildkräutersuppe. Oder sie sorgt für den Winter vor und bereitet köstliche Teemischungen zu: Apfelschalen, Hagebutten, Kloatzen (getrocknete Birnen), fermentierte Brombeerblätter, Gewürznelken, Zimtstangen und Muskatnuss wärmen von innen – der Tee gehört zu meinen persönlichen Lieblingsgetränken.

Vor einigen Jahren hat Mama sich zur Kneipp-Gesundheitspädagogin ausbilden lassen. Die Wasseranwendungen, gesunde Ernährung und Lebensordnung lassen sich hervorragend verbinden mit dem Wissen über Kräuter und Pflanzen. Jede gemeinsame Bergwanderung wird deshalb zum Kneipp’schen Abenteuer, und obwohl ich manchmal maule, wenn Mama uns dazu überredet die Wanderschuhe auszuziehen: Ich genieße es, eiskalte Bergbäche im Storchenschritt zu durchqueren. Wer müde und erschöpft ist, sollte unbedingt ein Armbad in einem Brunnen am Wegesrand machen. Dazu werden die Hände auf den Ellebogen des jeweils anderen Arms gelegt und die Arme dann in dieser Haltung bis zur Mitte des Oberarms in das Wasser getaucht. Das Armbad muss gar nicht lange dauern, immerhin hat jeder Mensch ein unterschiedliches Kälteempfinden. Die Arme werden anschließend nicht abgetrocknet, sondern das Wasser wird nur mit den Händen abgestreift. Es gibt wahrlich nichts, das mehr belebt an einem warmen Sommertag!
Doch auch im Winter weiß Mama, wie man die Durchblutung ankurbelt und die Füße aufwärmen kann. „Schneetreten“, tönt es durch das Haus, sobald die weiße Pracht einige Zentimeter hoch steht. Wer sich wirklich überwinden kann, aus den warmen Wollsocken zu schlüpfen und hinaus auf die verschneite Wiese zu laufen, wird überrascht sein. Denn Schnee wärmt wirklich – allerdings sollte man auch hier nicht übertreiben. Es reicht völlig aus, eine knappe Minute durch den Garten zu stapfen. Anschließend werden die Füße abgetrocknet und man schlüpft am besten wieder in die Socken. Das angenehme Prickeln in den Füßen dauert dann noch einige Minuten an.

Ein heißer Tee schmeckt nach dem Schneetreten umso besser. Einer der nicht nur gut duftet, sondern auch hervorragend gegen Husten wirkt, besteht aus Thymiankraut, Fenchelfrüchten, Süßholz und Spitzwegerich. Manche bezeichnen die unscheinbare Pflanze mit den langen spitzen Blättern auch als Unkraut, weil sie in Wiesen, Äckern und an Wegen nur so wuchert. Mir ist der Spitzwegerich sympathisch – hat mir sein enger Verwandter, der Breitwegerich, doch schon mal das Leben gerettet.

Zum Muttertag: über meine kräuterkundige, wissbegierige Mami. Ein „Gastbeitrag“ von Ingrid Kreiter.

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